"Das Flüstern des Barranco"
Es war einer dieser klaren Tage, an denen die Sonne erbarmungslos jede Schattenseite Teneriffas belichtete. Mein Name ist Elena Vargas. Eine freiberufliche Fotografin und Schriftstellerin, immer auf der Suche nach Geschichten, die nur darauf warten, entdeckt zu werden. Seit ich nach Teneriffa gezogen bin, hat mich der Barranco Santos magisch angezogen. Vielleicht, weil er eine ungezähmte Seite der Stadt zeigt, die so oft von Touristen übersehen wird. Oder weil ich irgendwo las, dass hier Menschen verschwunden sind.
Ich stand am Rand des Barranco Santos in Santa Cruz und spürte, wie die Hitze von den Felsen aufstieg. Der Pfad vor mir, eingefasst von hohen, schroffen Wänden und üppigem Gestrüpp, wirkte wie ein Tor in eine andere Welt. In der Ferne erhob sich das alte Viadukt, seine steinernen Bögen wie die Wirbelsäule eines uralten Riesen. Ich hob die Kamera an, fokussierte auf die schroffen Bögen des Viadukts. Doch etwas ließ mich innehalten. Es war nicht die perfekte Belichtung oder der Winkel – es war dieses Gefühl, dass der Barranco mehr Geheimnisse verbarg, als das Auge erfassen konnte.
Es war nicht nur die Stille – die Stadtgeräusche von Santa Cruz drangen hier nur gedämpft herüber – sondern das Gefühl, beobachtet zu werden. Ich konnte es nicht genau einordnen, aber ein seltsames Kribbeln lief meinen Rücken hinunter, als hätte die Schlucht selbst Augen.
Plötzlich vernahm ich ein Flüstern. Es war kaum lauter als das Rascheln des Windes in den trockenen Gräsern, doch es war da. Ich drehte mich um, blickte in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war, aber da war niemand. Der schmale Trampelpfad war leer, und selbst die Vögel, die sonst in den Felsen nisteten, schienen heute verstummt zu sein.
„Hola?“ Meine Stimme hallte von den Wänden des Barranco wieder und verklang. Keine Antwort. Trotzdem zog mich etwas tiefer in die Schlucht hinein. Mein Instinkt sagte mir, ich sollte umdrehen. Doch die Schriftstellerin in mir wollte wissen, was oder wer hinter diesem Flüstern steckte. War es Dummheit? Vielleicht. Aber Geschichten wie diese schreiben sich nicht von selbst.
Meine Schritte wurden langsamer, fast zögerlich, während ich den Pfad hinunter ging. Ich wusste nicht, wonach ich suchte, aber das Flüstern, dieses kaum wahrnehmbare Murmeln, lockte mich.
Nach einigen Minuten entdeckte ich eine kleine, halb verfallene Steinhütte, die ich zuvor noch nie bemerkt hatte. Sie war in die rechte Felswand integriert, fast als wäre sie ein Teil des Berges selbst. Die Tür hing schief in den Angeln, und das Innere war in Schatten gehüllt.
„Ist da jemand?“ fragte ich erneut, diesmal leiser. Wieder keine Antwort. Doch das Flüstern war deutlicher geworden. Es kam zweifellos aus der Hütte.
Mein Instinkt riet mir, umzukehren, aber meine Neugier war stärker. Ich trat über die Schwelle und spürte, wie die Temperatur schlagartig sank. Die Luft war stickig, und ein modriger Geruch stieg mir in die Nase. Auf dem Boden lag ein alter, mit Staub bedeckter Notizblock. Ohne nachzudenken, hob ich ihn auf und schlug ihn auf.
Die Seiten waren vergilbt, aber die Schrift darauf war erstaunlich klar. „Wer dies liest, wird das Geheimnis des Barranco bewahren müssen“, stand dort. Ich blätterte weiter, doch plötzlich erlosch das Licht.
Ein Schauer lief mir über den Rücken, als ich spürte, dass ich nicht mehr allein war.
„Hallo?“ Die Worte verließen meine Lippen fast tonlos, doch das Flüstern, das mich hierher gelockt hatte, verstummte abrupt. Stattdessen hörte ich ein leises Knirschen hinter mir, als ob jemand – oder etwas – auf den staubigen Boden trat. Langsam drehte ich mich um, mein Herz hämmerte in meiner Brust.
Im schwachen Licht, das durch die schiefe Tür fiel, zeichnete sich eine Silhouette ab. Es war die Gestalt eines Mannes, hager und in einen langen, abgetragenen Mantel gehüllt. Seine Augen leuchteten im Dämmerlicht, und sein Blick bohrte sich in meinen, als könne er bis tief in meine Gedanken sehen.
„Du solltest nicht hier sein“, sagte er schließlich, seine Stimme war rau, fast wie das Kratzen von Steinen aneinander.
Ich wollte antworten, doch meine Kehle war wie zugeschnürt. Stattdessen hielt ich den Notizblock hoch, als könnte er erklären, warum ich hier war. Der Mann fixierte ihn, und ein Ausdruck, der zwischen Wut und Verzweiflung schwankte, huschte über sein Gesicht.
„Leg ihn zurück“, verlangte er, seine Stimme nun eindringlicher. „Sofort. Manche Geheimnisse sollten ruhen.“
„Was ist das für ein Geheimnis?“ Meine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, doch die Worte schienen den Raum zu füllen.
Der Mann zögerte, und für einen Moment dachte ich, er würde mich einfach stehen lassen. Doch dann sprach er, leise und doch voller Schwere: „Dieser Barranco… er ist lebendig. Er beobachtet, er erinnert sich. Und er bestraft diejenigen, die ihn stören.“
Ein eisiger Hauch strich durch die Hütte, und ich spürte, wie sich die Haare in meinem Nacken aufstellten. Die Worte des Mannes klangen absurd, und doch schien etwas an ihnen wahr zu sein.
„Geh jetzt“, sagte er schließlich, „und vergiss, was du gesehen hast.“
Aber wie konnte ich das? Während ich die steilen Wände des Barrancos hinter mir ließ, konnte ich seinen Blick immer noch spüren. War er nur ein Verrückter? Oder sprach er die Wahrheit? Eins war sicher: Dieser Ort war anders. Lebendig. Und ich war mir nicht sicher, ob ich zurückkommen wollte.
Irgendetwas an dem Mann erinnerte mich an meinen Großvater. Er hatte ähnliche Geschichten erzählt, als ich klein war. Geschichten über Orte, die mehr Leben in sich tragen, als sie sollten. Vielleicht war es das, was mich hierher gezogen hatte. Doch eines wusste ich sicher: Der Barranco Santos würde mich nicht so schnell loslassen.